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Kanton SG
16.12.2021

Immer mehr Jugendliche kämpfen mit Lebenskrisen

Die Pandemie hat viele Nebenschauplätze Bild: pexels
Die Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste (KJPD) St.Gallen haben seit Jahren alle Hände voll zu tun. Durch die Pandemie wurde die Situation weiter verschärft. Besonders junge Erwachsene kämpfen mit Lebenskrisen, wie die Chefärztin im Interview erklärt.

Der Terminkalender von Dr. Suzanne Erb, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste (KJPD)St.Gallen ist voll. Für ein Interview hat sie ein Zeitfenster von 30 Minuten. Seit Jahren nimmt die Anzahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen, die psychiatrische Hilfe benötigen zu. Corona habe die Lage noch verschärft – besonders Suizidalitäten hätten zugenommen.

Frau Dr. Suzanne Erb, wie würden Sie die aktuelle Lage bei den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensten (KJPD) in St.Gallen beschreiben?
Wir haben sehr viel zu tun. Seit Jahren spüren wir einen Zuwachs von zehn bis dreizehn Prozent. Dieses Jahr waren es zu Beginn gar 20 Prozent mehr Kinder und Jugendliche, die uns mit ihren Familien aufsuchten. Seit Mitte Jahr sind die Zahlen etwas weniger angestiegen und pendeln sich auf hohem Niveau ein.

Kann man schon von einer Überlastung reden?
Wir versuchen dem natürlich mit all unseren Mitteln entgegenzuwirken und konnten zum Glück in diesem Jahr ein extra Notfallteam aufbauen, aber es fehlen Fachleute auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Diese zu finden, ist schwierig und dies verschärft die Situation, die durch viele Notfälle angespannt ist, noch weiter. 

« Viele kommen mit Stimmungsschwankungen, depressiven Phasen, selbstverletzendem Verhalten oder Angststörungen zu uns, aber auch mit allen anderen psychiatrischen Problemen, die man kennt. Sehr zugenommen haben Krisen bei Jugendlichen, die zum Beispiel Selbstmordgedanken haben. »
Dr. Suzanne Erb, Chefärztin KJPD

Wie lange muss man derzeit auf einen Termin warten?
Aufgrund der Belastungssituation haben wir, um die Wartezeiten auf ein halbwegs vertretbares Niveau zu senken, unser Vorgehen angepasst. Bei regulären Anmeldungen erhalten die Familien innert drei bis vier Wochen einen Termin für eine erste Klärung der Zuständigkeit und Dringlichkeit.

Danach kann es in nicht dringlichen Fällen drei bis vier Monate dauern, bis die Behandlung beginnt. Kinder und Jugendliche, bei denen es sich um einen Notfall – wie beispielsweise Suizidgefahr – handelt, erhalten wie immer am gleichen Tag einen Termin. Auch andere dringliche Fälle werden innert wenigen Tagen behandelt.

In welchem Alter sind die Patienten, die zu Ihnen kommen?
Wir behandeln Kinder und Jugendliche von 0 bis 18 Jahre gemeinsam mit ihren Familien.

Und gibt es derzeit eine Altersgruppe, die besonders betroffen ist? Und mit welchen Beschwerden kommt diese zu den KJPD?
Ja, Jugendliche zwischen 13 und 18 behandeln wir besonders häufig. Viele kommen mit Stimmungsschwankungen, depressiven Phasen, selbstverletzendem Verhalten oder Angststörungen zu uns, aber auch mit allen anderen psychiatrischen Problemen, die man kennt. Sehr zugenommen haben Krisen bei Jugendlichen, die zum Beispiel Selbstmordgedanken haben. 

Dr. Suzanne Erb ist Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensten (KJPD) St.Gallen. Bild: zVg

Man hört immer wieder, dass die Pandemie psychische Probleme verstärkt hat. Aber es ist ja nicht das Virus selbst unter dem Kinder und Jugendliche leiden, sondern da sind andere Faktoren. Können Sie diese benennen?
Es ist noch nicht genau erwiesen, welche Faktoren es sind. Aber der Kontakt zu Bezugspersonen ausserhalb der Familie – also beispielsweise zu Freunden – ist für Kinder und Jugendliche essenziell. Dieser wurde während der Pandemie und besonders im Lockdown stark reduziert. Dann ist da noch die wirtschaftliche Belastung der Eltern, die dazu führt, dass diese stark mit sich selbst beschäftigt waren, und das überträgt sich natürlich auf die Kinder. Weiter fehlt es vielen Betroffenen an Zukunftsperspektiven, da Abschlussprüfungen nicht stattfinden konnten und es weniger Stellen und Ausbildungsplätze für sie gibt.

Neben diesen Faktoren herrscht auch eine Art Krisenstimmung, und damit können Kinder und Jugendliche im Gegensatz zu Erwachsenen nicht gut umgehen. Ihnen fehlt es an Lebenserfahrung, an Zuversicht und sie lassen sich davon stärker beeindrucken und beeinflussen. Wovon selten gesprochen wird, ist meiner Meinung nach die Tatsache, dass viele Kinder und Jugendliche während Corona ihre Grosseltern verloren haben. Wir hatten ein Mädchen bei uns, das alle vier Grosseltern innert einem Jahr verloren hat.

Sind sozial schwächere Familien eher betroffen?
Im Lockdown spielten die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familien schon eine grosse Rolle. Für Kinder aus guten Verhältnissen war es sogar schön, wenn die Eltern plötzlich Zuhause waren und man konnte gemeinsam Zeit verbringen, die man normalerweise nicht hatte.

Sozial belastetere Familien haben in dieser Zeit hingegen schwer gelitten, bedingt zum Beispiel durch Ängste um den Verlust der Arbeitsstelle und enge Wohnverhältnisse. Mittlerweile spüren wir diese sozialen Unterschiede aber nicht mehr so stark, da sich die seelischen Probleme nach dem Höhepunkt der Krise allmählich bei Jugendlichen aus allen Bevölkerungskreisen zeigten.

«Wovon selten gesprochen wird, ist meiner Meinung nach die Tatsache, dass viele Kinder und Jugendliche während Corona ihre Grosseltern verloren haben. Wir hatten ein Mädchen bei uns, das alle vier Grosseltern innert einem Jahr verloren hat.»
Dr. Suzanne Erb, Chefärztin KJPD

Rechnen Sie bald mit einer Entschärfung der Situation?
Nein, wir rechnen nicht mit einer Entschärfung – eher im Gegenteil. Wie gesagt, treten viele Beschwerden erst nach einiger Zeit in Erscheinung, wie sich beispielsweise der Lockdown bei vielen erst im Nachhinein als seelische Krise auswirkte. Deshalb werden wir auch nach der Pandemie sehr viel zu tun haben.

Ist unsere Gesellschaft genügend sensibilisiert auf das Thema?
Es ist wünschenswert, dass psychische Erkrankungen nicht mehr tabuisiert werden. Früher haben Jugendliche ihren Frust oder seelischen Schmerz wahrscheinlich mehr nach aussen getragen, indem sie sich beispielsweise auf dem Pausenhof geprügelt haben.

Heute hat sich das verändert. Sie agieren ihre Spannungen mehr nach innen aus, was im Grunde 'besser' ist – sich aber in emotionalen Belastungen auswirken kann. Es ist wichtig, dass sie dann Hilfe bekommen.

Welche zusätzlichen Angebote braucht es, um der Nachfrage gerecht zu werden?
Man muss längerfristig denken. Es bräuchte beispielsweise mehr teilstationäre und sogenannte 'intermediäre' Angebote, das heisst eine mobile Equipe, die zu den Familien nach Hause geht, Tageskliniken in allen Kantonsteilen, eine Nachtklinik – und vor allem mehr Fachleute.

Sehen Sie auch Handlungsbedarf seitens Politik?
Ja, das Problem ist dem Kantonsparlament bekannt und es ist klar, dass Handlungsbedarf besteht. Für mich sind vernetzte Projekte gefragt, bei denen die Departemente Bildung, Gesundheit, Soziales und Sicherheit stärker zusammenarbeiten. So könnten gezielte Hilfestellungen angeboten werden und man würde Doppelspurigkeiten vermeiden und Kosten einsparen. 

Hier findet man bei psychischen Erkrankungen Hilfe:

 

Miryam Koc